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    Reise ans Ende der Welt – Teil 1

    Ein unvollständiges Tagebuch

    Tag - 1

    Ein letzter Termin, Videokonferenz – absolviert.
    Gepackte Koffer noch ins Auto hieven.
    Proviant einpacken.
    Hund auf die Rückbank ins Transport- und Schlafkörbchen.
    Check up: Ausweis, Karten, Bargeld, Handy, Ladekabel.
    Sonnenbrille auf.
    Start.

    1.500 Kilometer vor mir, mein Zuhause, mein Job hinter mir. Mein Hund bei mir.
    Go west!

    Nein, ich fahre nicht einfach in den Westen, sondern an die westlichste Spitze unseres Kontinents. 
    Einmal quer durch, nach links sozusagen. 
    Bis es nicht mehr weitergeht. 
    Bis ans Ende der Welt, unserer Welt.

    Doch bis dahin sind etliche Hindernisse zu überwinden und einiges zu durchleiden.
    Stau schon im westlichen Thüringen, Vollsperrung A4, anderthalb Stunden Zeitverlust.
    Danach Baustelle, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Baustelle, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Baustelle, erhöhtes Verkehrsaufkommen oder beides zusammen. 
    Dazwischen Hunde-Pipi-Pausen, Spaziergänge an Raststätten. Kaum Platz zwischen den LKW, die Ruhepausen einlegen oder Nachtruhe halten.

    Ankunft Zwischenstopp Namur, Belgien.



    Tag 0

    Start nach ausgiebiger Nachtruhe und ordentlichem Frühstück. Und nach Hunderunde. 
    Neun geplante Autostunden plus Pausen vor mir. 
    Wetter wechselt zwischen Sonnenschein und wolkenbruchartigem Regen. 
    Sonnenbrille auf und ab. Mal geblendet, mal im Schritttempo wegen mangelnder Sicht und Straßen, die sich in Seen verwandeln.

    Höchstgeschwindigkeiten in Belgien 120 km/h, in Frankreich 130. Beide erreiche ich selten. Regen, Sonne, Wolkenbruch.

    Die neun Stunden sind nicht zu schaffen, melde meine verspätete Ankunft im Hotel an.

    „Oh, Madame, no problem, your room is ready, we will wait for you. Take the time you need, don’t hurry.“ erklingt es in freundlich-französisch schwingendem Englisch, nachdem ich den einzigen Satz, den ich auf Französisch beherrsche, gesagt habe: „Je ne parle pas Francais, vous parles anglais?“ (Ich spreche kein Französisch, sprechen Sie Englisch?)

    Eine Stunde später Ankunft. Freundlicher Empfang. Das Gepäck für fast drei Wochen wird aufs Zimmer gebracht. Wünschen Sie einen Platz im Restaurant? Kommen Sie morgen zum Frühstück? Nein und vielleicht. 

    Brauche jetzt nur eines: Den Blick auf die unendlichen Weiten des Atlantiks. Der westlichste Punkt Europas in Sichtweite des Hotels. „Meines“ Hotels, denn ich bin zum dritten Mal hier.

    Durchatmen. Mich-frei-atmen. Am Horizont berühren sich Himmel und Meer. Keine Linie, die die Elemente trennt. Graue Wolken hängen tief. 

    Angekommen. Endlich. 
    18 Stunden im Auto haben zwei Tage „geschluckt“. 



    Tag 1

    Der Tag erwacht grau. Nach dem Gang ins Bad ist er blau. Der Wechsel vollzieht sich hier unversehens, rasant. 

    Der Wind bläst kräftig. Ich entscheide mich, zuerst „meinen“ Ort, der längst zum Sehnsuchtsort geworden ist, zu durchstreifen. Le Conquet ist ein Städtchen mit pittoresken Gassen, Natursteinhäusern typisch bretonischer Architektur, mit rund 2.800 Einwohnern und sich gut verteilenden Touristen. Selbst zur Urlaubshochsaison, in der ich bisher reiste, bleibt der Andrang sehr überschaubar. 

    Die Einwohner sind Fischer, Bauern, Handwerker oder in der Gastronomie Beschäftigte. Es geht hier bodenständig, freundlich, unaufgeregt und professionell zu. 

    In jedem Falle aber herzlich. Nicht nett, mit oberflächlichen Floskeln illustriert, sondern wirklich herzlich. Zugewandt. Interessiert. Und so kommt es, dass man mich im Hotel nicht nur an der Rezeption erkennt, wo man Zugriff auf Namen und Daten hat, sondern auch die Kellner an der Bar, im Restaurant, die guten Geister vom Housekeeping. „Bonjour, Madame!“ – begleitet meine Reise von Anfang an.

    An der Steilküste wandelnd – nicht mehr wandernd wie vordem (der Hund ist zu alt geworden für lange Strecken) – also wandelnd – weiß ich wieder, warum ich diesen weiten Weg auf mich genommen habe. Ich spüre die unvergleichliche Energie enormer Gezeiten, die Kraft der Wellen, die machtvoll gegen die steinige Küste anrollen. Ich sehe und fühle (ja, fühle) dieses irre Licht, das sich in grandiosen Sonnenuntergängen vom Tag verabschiedet und blau-laue Nächte einleitet. 

    Hier, am Ende der Welt, ist alles anders. Die Bretagne, die überall beeindruckend ist, zeigt sich von ihrer aufregendsten, rauesten, ursprünglichsten und für mich schönsten Seite. 

    Niemand kann das wohl besser in Worte fassen als der Dichter Flaubert, dem ich seine Kunst der Beschreibung dieser Natur neide:

    „Hier endet die alte Welt, dies ist ihr letzter Punkt, ihre äußerste Grenze; hinter einem liegt das ganze Europa, das ganze Asien; vor einem liegt das Meer, und zwar das ganze Meer. So groß die Entfernungen in unseren Augen auch sein mögen, sind sie nicht immer begrenzt, sobald wir ihr Ende kennen? […] Doch hier hält einen nichts mehr auf; schnell wie der Wind kann der Gedanke davoneilen, und sich ausbreitend, umherschweifend, sich verlierend, trifft er nur auf Wellen, Wellen; am Ende dann allerdings, ganz am Ende, am Horizont der Träume, das vage Amerika …“*

    *Gustav Flaubert, Maxime du Camp, Über Felder und Strände. Eine Reise in die Bretagne.

    Autor: B. Köhler Fotos: B. Köhler

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